Nein, heute geht’s ausnahmsweise mal nicht um
den Bulli.
Man sagt: „Wer nicht in Indien Zug gefahren
ist, der kennt Indien nicht.“
Ich sage: „Wer nicht in Indien Bus gefahren
ist, der kennt Indien nicht.“
…
Irgendwo in einem Kaff irgendwo in Rajasthan
irren wir durch Altstadtgassen voller Menschen, voller Fliegen und (auf Grund der
offenen Kanalisation) voller intensiver Düfte.
Wenn die Schilder nur noch in Hindi
geschrieben sind, weiß man, man bewegt sich abseits der Touristenpfade.
Überflüssig zu sagen, dass wir weit und breit die einzigen Bleichgesichter
sind.
Wir, das sind Flo, Eva, William und ich. Die
Tages-Challenge heißt heute „Fahre mit dem Bus nach Fatehpur Sikri. Finde dort
eine Moschee sowie einen verlassenen Mogul-Palast.“
Flo und Eva sind ebenfalls deutsch, Will ist
Engländer. (der nach eigener Aussage nur eine „halbe Sprache“ spricht, was
stimmt, denn ich habe echte Schwierigkeiten, sein „bwitish inglish zu
verstehen). Kennen gelernt habe ich die drei auf dem
Busbahnhof, auf der Suche nach dem richtigen Bus.
Um eines vorweg zu nehmen - Seit meiner ersten
EHRLICHEN Busfahrt (wir sprechen gerade von den Bussen, die die Inder als tägliches
Fortbewegungsmittel nutzen, nicht von Deluxe-Langstrecken-Touristen-Bussen) ist
mir klar, warum man in Indien bei der Bahn unbedingt eine Reservierung braucht.
Denn wenn es auf den indischen Bahnhöfen so zugehen würde wie beim Entern eines
„Linien“-Busses, hätten die Inder sicherlich weniger Probleme mit
Überbevölkerung…
Einen Busbahnhof in Indien kannst Du Dir vorstellen
wie in Deutschland.
Nun denke Dir sämtliche Schilder, Abfahrtspläne,
Beleuchtung, Asphalt und Toiletten weg und eine Sonne, keinen Schatten und
zweiunddreißig Grad dazu.
Was bleibt ist eine große Freifläche mit einhundert
Bussen (ohne Beschilderung), eintausend Indern (mit großen Augen) und
dreihunderttausend Koffern (mit Schnüren und Folie zugebunden), die jeden Platz
okkupieren, der zum Sitzen, Warten, Kartenspielen und Schlafen geeignet ist. Dazwischen Rußwolken und das immerGegenwärtige: Hupen, Spucken, Hunde, Kühe und
Ziegen.
Wir warten nun seit einer Stunde in der prallen
Sonne. Keiner weiß wann der Bus nach Fatehpur Sikri kommt oder fährt. Das ist
zugegebenermaßen ungewöhnlich, denn meist wissen die Inder schon, wo der Bus
abfährt. Ich frage einfach immer die Busfahrer selbst wo sie hinfahren.
Funktioniert hier nicht, keiner der Busse scheint für uns bestimmt zu sein.
Plötzlich, wie auf ein stilles, für uns nicht
hörbares Kommando fangen ALLE an zu rennen.
Ein Bus biegt in den Busbahnhof ein.Halb so
groß wie all die anderen Busse, die hier rumstehen, voll (und ich meine: VOLL!)
mit Menschen.
Der Bus hält, umringt vom Mob, in der Mitte
des Platzes.
Bevor auch nur EIN EINZIGER Passagier ausgestiegen
ist, drücken ALLE Wartenden durch die einzige offene Tür in den Bus. Klingt logisch?
Jep. Ich auch.
Das geht dann erstmal zwei Minuten so (im
Moment schaue ich noch fasziniert von hinten zu), bevor der Kontrolleur
sprichwörtlich mit der Machete einen Weg durch den anstürmenden Mob
freigekämpft hat, damit die Leute aussteigen können.
Männer zuerst, Frauen und Kinder zuletzt. Die
Frauen fighten mit ihren Taschen, Körben und Koffern tapfer ihren Weg in die
Freiheit. Kinder werden an Armen und Beinen aus dem Schlammassel rausgezogen. Das Ganze Bild erinnert mich stark an die bei den Galliern stets beliebte Dorfmassenschlägerei,
wenn der Schmied und der Fischhändler mal wieder aneinander geraten sind.
Während der Kampf an der vorderen Eingangstür tobt,
entern erwachsene Männer mit Stoffhose und Hemd den Bus durch die hinteren
Fenster (Trick 1), heben ihre Kinder hindurch (Trick 2) oder schmeißen ihre Sandalen,
Taschen oder leere Flaschen auf irgendwelche Sitze, die damit anscheinend „reserviert“
sind (Trick 3).Das eigentlich interessante an Trick 3 ist, dass sich alle daran
halten.
Nachdem nun an der Vordertür etwa die Hälfte
der aktuellen Besatzung evakuiert ist, nimmt der Kampf dramatische Ausmaße an. Das
ist ja nicht das erste Mal, es gibt in Indien einfach hin und wieder Situationen
– denen meist längere Ansteh- oder Wartezeiten vorausgehen – in denen die
kritische Masse überschritten ist. In diesen Situationen scheint dann einzig und
allein das Recht des Stärkeren zu gelten. Gelebte Anarchie.
Ich habe mittlerweile von "Beobachter" auf
"Teilnehmer" gewechselt und befinde nun mitten im Schlamassel,
schließlich muss ich heute nach Fatehpur Sikri. Zum Glück bin ich erfahrener Freestyle-Drängler (13 Jahre Stuttgarter Nachtleben). Ich befinde mich im Epizentrum des Mobs,
schiebe so richtig nach vorne an, befinde mich einen Meter von der Tür entfernt, werfe
alles in die Waagschale, bekomme den Türgriff zu fassen, ziehe und quetsche mich durch
den Spalt, den der Inder vor mir freilässt, weil sein Rucksack hinter ihm
festhängt. Bin drin.
Selbst nun im Bus (Sitzplätze sind alle voll
mit Schuhen, Wasserflaschen und Halbwüchsigen), ziehe ich Eva an der hinteren
Tür, die einer der Bus-Eroberer Trojaähnlichvon innen geöffnet hat, aus dem schubsenden
Mob ins Innere des mittlerweile schon in Schrittgeschwindigkeit fahrenden
Busses.
Im Bus selbst, der nach nun fünf Minuten sehr
indisch (lies: „zweihundert Prozent“) gefüllt ist, kehrt dann erstaunlich
schnell wieder die dem Inder (meist) zu eigene Friedlichkeit und Gelassenheit ein.Tatsächlich
haben die meisten Männer die Sitzplätze – teils äußerst aggressiv – für ihre
Frauen und Kinder erkämpft und stehen dann selbst die komplette Fahrt im Gang.
Zuerst „Frauen und Kinder zuletzt“. Dann
Gentleman. Dis isIndia.
Wie ich in FatehpurSikriaus dem Bus „ausgestiegen“
bin, muss ich wohl nicht extra erklären.
Stay tuned.
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