Freitag, 7. Dezember 2012

Kapitel 15 – Der Bus



Nein, heute geht’s ausnahmsweise mal nicht um den Bulli.

Man sagt: „Wer nicht in Indien Zug gefahren ist, der kennt Indien nicht.“

Ich sage: „Wer nicht in Indien Bus gefahren ist, der kennt Indien nicht.“


Irgendwo in einem Kaff irgendwo in Rajasthan irren wir durch Altstadtgassen voller Menschen, voller Fliegen und (auf Grund der offenen Kanalisation) voller intensiver Düfte.

Wenn die Schilder nur noch in Hindi geschrieben sind, weiß man, man bewegt sich abseits der Touristenpfade. Überflüssig zu sagen, dass wir weit und breit die einzigen Bleichgesichter sind.

Wir, das sind Flo, Eva, William und ich. Die Tages-Challenge heißt heute „Fahre mit dem Bus nach Fatehpur Sikri. Finde dort eine Moschee sowie einen verlassenen Mogul-Palast.“

Flo und Eva sind ebenfalls deutsch, Will ist Engländer. (der nach eigener Aussage nur eine „halbe Sprache“ spricht, was stimmt, denn ich habe echte Schwierigkeiten, sein „bwitish inglish zu verstehen). Kennen gelernt habe ich die drei auf dem Busbahnhof, auf der Suche nach dem richtigen Bus.

Um eines vorweg zu nehmen - Seit meiner ersten EHRLICHEN Busfahrt (wir sprechen gerade von den Bussen, die die Inder als tägliches Fortbewegungsmittel nutzen, nicht von Deluxe-Langstrecken-Touristen-Bussen) ist mir klar, warum man in Indien bei der Bahn unbedingt eine Reservierung braucht. 
Denn wenn es auf den indischen Bahnhöfen so zugehen würde wie beim Entern eines „Linien“-Busses, hätten die Inder sicherlich weniger Probleme mit Überbevölkerung…

Einen Busbahnhof in Indien kannst Du Dir vorstellen wie in Deutschland. 
Nun denke Dir sämtliche Schilder, Abfahrtspläne, Beleuchtung, Asphalt und Toiletten weg und eine Sonne, keinen Schatten und zweiunddreißig Grad dazu. 

Was bleibt ist eine große Freifläche mit einhundert Bussen (ohne Beschilderung), eintausend Indern (mit großen Augen) und dreihunderttausend Koffern (mit Schnüren und Folie zugebunden), die jeden Platz okkupieren, der zum Sitzen, Warten, Kartenspielen und Schlafen geeignet ist. Dazwischen Rußwolken und das immerGegenwärtige: Hupen, Spucken, Hunde, Kühe und Ziegen.

Wir warten nun seit einer Stunde in der prallen Sonne. Keiner weiß wann der Bus nach Fatehpur Sikri kommt oder fährt. Das ist zugegebenermaßen ungewöhnlich, denn meist wissen die Inder schon, wo der Bus abfährt. Ich frage einfach immer die Busfahrer selbst wo sie hinfahren. Funktioniert hier nicht, keiner der Busse scheint für uns bestimmt zu sein.

Plötzlich, wie auf ein stilles, für uns nicht hörbares Kommando fangen ALLE an zu rennen.

Ein Bus biegt in den Busbahnhof ein.Halb so groß wie all die anderen Busse, die hier rumstehen, voll (und ich meine: VOLL!) mit Menschen.

Der Bus hält, umringt vom Mob, in der Mitte des Platzes.

Bevor auch nur EIN EINZIGER Passagier ausgestiegen ist, drücken ALLE Wartenden durch die einzige offene Tür in den Bus. Klingt logisch? Jep. Ich auch.

Das geht dann erstmal zwei Minuten so (im Moment schaue ich noch fasziniert von hinten zu), bevor der Kontrolleur sprichwörtlich mit der Machete einen Weg durch den anstürmenden Mob freigekämpft hat, damit die Leute aussteigen können.

Männer zuerst, Frauen und Kinder zuletzt. Die Frauen fighten mit ihren Taschen, Körben und Koffern tapfer ihren Weg in die Freiheit. Kinder werden an Armen und Beinen aus dem Schlammassel rausgezogen. Das Ganze Bild erinnert mich stark an die bei den Galliern stets beliebte Dorfmassenschlägerei, wenn der Schmied und der Fischhändler mal wieder aneinander geraten sind.

Während der Kampf an der vorderen Eingangstür tobt, entern erwachsene Männer mit Stoffhose und Hemd den Bus durch die hinteren Fenster (Trick 1), heben ihre Kinder hindurch (Trick 2) oder schmeißen ihre Sandalen, Taschen oder leere Flaschen auf irgendwelche Sitze, die damit anscheinend „reserviert“ sind (Trick 3).Das eigentlich interessante an Trick 3 ist, dass sich alle daran halten.

Nachdem nun an der Vordertür etwa die Hälfte der aktuellen Besatzung evakuiert ist, nimmt der Kampf dramatische Ausmaße an. Das ist ja nicht das erste Mal, es gibt in Indien einfach hin und wieder Situationen – denen meist längere Ansteh- oder Wartezeiten vorausgehen – in denen die kritische Masse überschritten ist. In diesen Situationen scheint dann einzig und allein das Recht des Stärkeren zu gelten. Gelebte Anarchie.

Ich habe mittlerweile von "Beobachter" auf "Teilnehmer" gewechselt und befinde nun mitten im Schlamassel, schließlich muss ich heute nach Fatehpur Sikri. Zum Glück bin ich erfahrener Freestyle-Drängler (13 Jahre Stuttgarter Nachtleben). Ich befinde mich im Epizentrum des Mobs, schiebe so richtig nach vorne an, befinde mich einen Meter von der Tür entfernt, werfe alles in die Waagschale, bekomme den Türgriff zu fassen, ziehe und quetsche mich durch den Spalt, den der Inder vor mir freilässt, weil sein Rucksack hinter ihm festhängt. Bin drin.

Selbst nun im Bus (Sitzplätze sind alle voll mit Schuhen, Wasserflaschen und Halbwüchsigen), ziehe ich Eva an der hinteren Tür, die einer der Bus-Eroberer Trojaähnlichvon innen geöffnet hat, aus dem schubsenden Mob ins Innere des mittlerweile schon in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Busses.

Im Bus selbst, der nach nun fünf Minuten sehr indisch (lies: „zweihundert Prozent“) gefüllt ist, kehrt dann erstaunlich schnell wieder die dem Inder (meist) zu eigene Friedlichkeit und Gelassenheit ein.Tatsächlich haben die meisten Männer die Sitzplätze – teils äußerst aggressiv – für ihre Frauen und Kinder erkämpft und stehen dann selbst die komplette Fahrt im Gang.

Zuerst „Frauen und Kinder zuletzt“. Dann Gentleman. Dis isIndia.

Wie ich in FatehpurSikriaus dem Bus „ausgestiegen“ bin, muss ich wohl nicht extra erklären.



Stay tuned.

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